Im November, wenn die Tage kürzer werden und das Wetter schlechter, beginnt eine besondere Zeit des Jahres: die Zeit der Bücher und des Erzählens. Dann erzählen die Großeltern ihren Enkeln davon, wie es früher so war und dann kommt mitunter auch der Gedanke auf, dass diese Erzählungen doch aufgeschrieben werden müssten, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Genau so ist auch die Idee zu Rainer Kudzielas autobiographischem Roman „Kasernen-Cowboy: Flüchtlingskind“ entstanden, den der inzwischen Achtzigjährige jüngst am Emsland-Gymnasium in einer Autorenlesung vorstellte.

Kudziela las im Forum der Schule vor den Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufe 8 aus seinem Leben vor – und das so lebendig und einfühlend, dass es sich eben tatsächlich so anfühlte, als wenn ein Großvater seinen Enkelkindern von früher erzählt. So erlebten die jungen Menschen gebannt mit, wie der achtjährige Kudziela einen schweren Fahrradunfall auf wundersame Weise nahezu unverletzt überstand und seine einzige Sorge dabei dem Zustand des Fahrrads seiner Mutter galt, das er sich doch heimlich aus dem Keller genommen hatte und das zu den damaligen Zeiten unersetzlich gewesen war. Es wird aber auch Einblick in das Leben in einer Flüchtlingsunterkunft gegeben. Wie fühlte es sich an, in einer alten, ausgedienten Kaserne als Familie zwei Zimmer mit Etagentoilette zu bewohnen, umgeben von achtzig anderen Familien? Man teilt mit Kudziela die Erinnerungen seiner Mutter an die Flucht vor den feindlichen Russen gen Westen in einem völlig überfüllten Bahnwaggon. Eine Bahnfahrt, die unter normalen Umständen nur drei Stunden dauert, damals aber sage und schreibe drei Wochen währte und die Nerven aller Flüchtlinge im Waggon auf das Schlimmste strapazierte, da Bombenangriffe ausgestanden und das ständige Weinen des Säuglings Kudziela ausgehalten werden mussten.

Doch bei aller Ernsthaftigkeit des Themas durfte auch geschmunzelt werden, als Kudziela von seinen ersten Schmetterlingen im Bauch berichtete oder von seiner ersten Begegnung mit einer Maibowle, die dann auch kopfüber und mit viel Gelächter in einem Rhododendronstrauch endete.

Ja, Kudziela schaffte es, die pubertierenden Jugendlichen in seine persönliche Geschichte hineinzuziehen. Sie stellten zahlreiche Fragen zur Romanhandlung selbst, aber auch zum Beruf des Schriftstellers. Und nicht wenige Schülerinnen und Schüler meldeten sich auf die Frage, wessen Familie denn auch einen Flüchtlingshintergrund habe. So wird diese Lesung bestimmt dazu führen, dass einige der Zuhörenden zu Hause ihre (Ur-)Großeltern bitten werden: „Erzähl doch mal von früher“. Und vielleicht wird dann ja auch gemeinsam im Roman „Kasernen-Cowboy“ oder einer anderen Flüchtlingserzählung gelesen. Im November ist die richtige Zeit dafür.